Lichtblick-School

Die Erfindung des Realen 2010

Seminar von Wolfgang Zurborn
an der Neuen Schule für Fotografie Berlin, April 2010 bis Februar 2011


Gabriele Harhoff, Living Creatures

mit Arbeiten von:
Marion M. Dittmer • Marina D'Oro • Sonja Düring
Monika Hager • Gabriele Harhoff • Tobias Keppler
Cina F. Sommerfeld • Elke Sonntag • Rosemarie Zens

und Fotografien von der Ausstellung Die Erfindung des Realen 2010
in den Galerieräumen der Neuen Schule für Fotografie, Berlin
4. - 18. Juni 2011
© Tobias Keppler

 

Das Medium Fotografie gibt uns die Möglichkeit, komplexe Dokumente unserer Umwelt zu schaffen. Der Prozess der Bildfindung kann dabei aber nicht losgelöst von den subjektiven Perspektiven und den persönlichen Interessen der FotografInnen gesehen werden. Erst wenn sich die inneren Bilder unserer Vorstellung von Welt für einen Moment mit der Wahrnehmung der Außenwelt decken, dann können in diesem Dialog überzeugende fotografische Arbeiten entstehen, die den Betrachter fesseln, jenseits einer einfachen Abbildung von Realität. Jede mit einem präzisen Bewusstsein und einem feinen Gespür für die eigene Motivation sorgfältig editierte Bildauswahl erfindet die Realität neu. Es gibt keinen richtigen oder falschen Blick. Es geht vielmehr darum, sich der eigenen Intentionen klar zu werden und damit auch Kriterien für die eigene Bildsprache entwickeln zu können.

Das Ziel des Seminars Die Erfindung der Realen von Wolfgang Zurborn an der Neuen Schule für Fotografie in Berlin ist nicht, einen fotografischen Stil durchzusetzen. Die konsequente Ausarbeitung jeder einzelnen subjektiven Position ist die Grundlage dafür, die Vielfalt der Bildstrategien als einen Reichtum des Sehens zu empfinden. Innerhalb von neun Seminarterminen zwischen April 2010 und Februar 2011 entstanden die Fotoarbeiten der TeilnehmerInnen Elke Sonntag, Marion Dittmer, Gabriele Harhoff, Cina F. Sommerfeldt, Marina D’Oro, Monika Hager, Sonja Düring, Tobias Keppler und Rosemarie Zens, die vom 4. bis 18. Juni in den Galerieräumen der Neuen Schule für Fotografie zu sehen sind.


Elke Sonntag, Privacy in Public

Alle im Seminar entstandenen Fotografien wurden im öffentlichen Raum aufgenommen. Einige thematisieren dabei aber gerade das Spannungsfeld zwischen Öffentlichkeit und Privatheit. Privacy in Public nennt Elke Sonntag ihre Serie der im Stil der Street Photography eingefangenen Momentaufnahmen aus Hamburg, Berlin und Istanbul. Sie hat einen sehr genauen Blick für die Sprache der Körper und für Augenblicke, in denen die Emotionen der Dargestellten in einer konzentrierten Mimik sichtbar werden. Situationen im öffentlichen Raum verdichten sich zu urbanen Choreografien und der Stadtraum wird zur Theaterbühne des realen Lebens.

Die Hafenszene an der Travemündung mit dem Fischverkauf direkt vom Kutter weckte die Neugier von Marion Maria Dittmer. Sie nutzt das frühe Morgenlicht, um die toten Fische in einer eigenartigen Schönheit erstrahlen zu lassen. Sehr fragmentarische Ausschnitte der Szenerien zeigen von den Fischerleuten nur ihre Hände und die Geräte, mit denen sie die Fische zerlegen. Die Konsequenz dieser Serie frisch.fisch mit dem Verzicht auf eine klischeehafte Verklärung dieses Sujets ermöglicht eine Betrachtung, die das archaische Verhältnis von Mensch und Tier ins Bild setzt.

Die Fotografien aus der Serie Living Creatures von Gabriele Harhoff erlauben einen neuen Blick auf den urbanen Raum. Lewis Baltz nannte die Normalität des Alltags das letzte Tabu der Fotografie. Und es ist tatsächlich eine der schwierigsten Herausforderungen, das städtische Umfeld so zu fotografieren, dass der Betrachter sensibilisiert wird für die sonst unbeachteten Spuren unserer Alltagskultur. Räume und Objekte werden in einer fragmentarischen Sicht aus ihrem funktionalen Zusammenhang herausgerissen und können dann ein sonderbares Eigenleben entwickeln.


Cina F. Sommerfeld, Hot & Frozen

Cina F. Sommerfeld arbeitet in ihrer Serie Hot & Frozen mit Gegensätzen. Aufnahmen von Frauen, die deren anmutige Bewegungen in der Straße für einen Moment einfrieren, werden Ansichten von verschneiten Hochhäusern der Frankfurter Skyline gegenübergestellt. Mit einer sehr subtilen Bildsprache, die die Wahrnehmung auf das Flüchtige, das Unspektakuläre richtet, vermeidet sie eine einfache Symbolik in ihren Bildkombinationen. Sie schafft ein komplexes Zusammenspiel von Assoziationen zu Verletzlichkeit, Kühle, Macht und Leidenschaft.

Mit ihren Spiegelbildern kreiert Marina D’Oro Schnittstellen des Imaginären, poetische Schichtungen von Stadtraum und Naturraum, die in einer Bildebene verschmelzen. Fensterscheiben schaffen Grenzen zwischen Innen und Außen, Privatem und Öffentlichem, zwischen Illusion und Realität. In präzise gesehenen Spiegelungen lösen sich diese Gegensätze auf und das Abgebildete wird befreit von einer eindeutigen Interpretation. Die visuelle Verdichtung mit einem hohen Abstraktionsgrad beflügelt die Fantasie des Betrachters.

Die Personen in den Fotografien von Monika Hager wirken wie die Darsteller eines absurden Theaters. Sie scheinen wie entrückt zu sein aus dem normalen Alltagsgeschehen. Die Fotografin hat ihnen keine Regieanweisungen gegeben. Vielmehr hat sie Momente festgehalten, in denen ihre Körpersprache, Gestik und Mimik einer ganz eigenen Dramaturgie folgen. Sie hat großen Respekt vor ihren Protagonisten und drängt ihnen keine eindeutige Interpretation auf. Diese Offenheit zeigt sich auch in der Präsentation der Arbeiten mit unterschiedlichen Formaten in nichtlinearer Hängung.


Sonja Düring, Brechungen

In ihrer Fotoinstallation Brechungen verwendetSonja Düring darüber hinaus noch verschiedene Bildoberflächen und forciert damit eine Sichtweise des zerteilten Blicks, der die subjektive Konstruktion von Wirklichkeit deutlich macht. Das spannungsvolle Verhältnis von Schutzbedürfnis und Verletzlichkeit findet in ihren Bildkombinationen von Körpern, Gesichtern, Zäunen und Mauern einen intensiven Ausdruck. Die fragmentarischen Bilder sensibilisieren den Blick für die Oberflächen, in denen die flüchtigen Spuren von inneren und äußeren Konflikten sichtbar werden. Der routinierte Bildkonsum wird durch irritierende visuelle Verknüpfungen gestört. und fordert vom Betrachter, sich einzulassen auf die Komplexität der Thematik.

Mit äußerster Detailgenauigkeit beschreibt Tobias Keppler in seinen Fotografien alltägliche Orte, die auf den ersten Blick keine Gemeinsamkeit zu haben scheinen. Es handelt sich nicht um typologische Aneinanderreihungen von Stadtlandschaften und auch nicht um die Katalogisierung von Architekturformen. Das Verbindende ist die Erinnerung des Fotografen an Orte im öffentlichen Raum, die für ihn von persönlicher Bedeutung sind. Ohne die Geschichten zu kennen ist man als Betrachter sofort involviert in die abgebildeten Szenerien. Die Sorgfalt in der Betrachtung zielt nicht auf eine nüchterne Objektivierung des Blicks, sondern auf eine möglichst präzise Formulierung des subjektiven Verhältnisses zur Welt.


Tobias Keppler

Die zur Legende gewordene Route 66 und das damit verbundene kollektive Erinnern an ein Lebensgefühl der 60er Jahre ist der Gegenstand der Arbeit Unterwegssein. Journeying 66 von Rosemarie Zens. Vor über 40 Jahren ist sie selbst dem Ruf von Freiheit „On the Road“ gefolgt und erlebt in der Wiederholung dieser Reise im Jahr 2010 die Wandlung dieser Straße zu einer Art Museum. Der Akt des Fotografierens ermöglicht eine Klärung des aus einer Mixtur von privaten Erinnerungen, gesellschaftlichen Ideologien und medialen Mythen gespeicherten Bildes einer Zeit.

Die Präsentation der im Seminar Die Erfindung des Realen von Wolfgang Zurborn entstandenen Arbeiten in den Galerieräumen der Neuen Schule für Fotografie zeigt einmal mehr, wie sehr jede fotografische Darstellung unserer Umwelt von der Biografie abhängig ist. Die gezeigten eigenständigen persönlichen Fotoarbeiten konnten sich nur in einem offenen Dialog entwickeln, der das Selbstbewusstsein förderte, einen eigenen Blick auf die Welt zu wagen.