Lichtblick-School

The Theatre of Real Life Vol. 14

6-monatiges Seminar von Wolfgang Zurborn an der Lichtblick School
Oktober 2016 - März 2017



Cover des Katalogs zum Seminar The Theatre of Real Life vol. 14
Foto: Ralf Salewski

mit Arbeiten von:
Ninette Niemeyer • Joseph Neri Chio • Lisa Frechen • Jutta Holtkamp • Wolfgang Kleufer • Stefan Ostler • Ralf Maximoff • Ralf Salewski • Andreas Kerschgens

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Die Provokation des Zufalls beim Akt des Fotografierens in der Straße und die aufwendige Inszenierung exakt geplanter Bildwelten bilden zwei gegensätzliche Pole auf dem Feld der Fotografie. Die Arbeiten des amerikanischen Fotografen Philip-Lorca diCorcia sind aber ein wunderbarer Beleg dafür, dass diese beiden Herangehensweisen an das Medium nicht komplett getrennt voneinander gesehen werden müssen. Intuitive Bildfindung und konzeptionelle Konstruktionen von Wirklichkeit verschmelzen in seinem Werk zu einem lebendigen Dokument unserer Zeit, das authentisch wirkt gerade weil es arrangiert ist.

Die Arbeiten in diesem Katalog, die im Rahmen des Fotoseminars „The Theatre of Real Life“ von Wolfgang Zurborn an der Lichtblick School Köln entstanden sind, bewegen sich auch alle auf der Schnittstelle zwischen Dokument und Inszenierung. Auf der einen Seite geben sie in der Form von visuellen Tagebüchern einen Einblick in die Innenwelten der Autor/Innen, in ihre Ängste und Sehnsüchte, und auf der anderen Seite schaffen sie einen intensiven Dialog mit der Aussenwelt, mit den Konditionen unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens.


Ninette Niemeyer, Der liebe Gott will mich noch nicht

Eine Nachttischlampe spendet das Licht für die Lektüre im Bett. Von der alten Dame, die Ninette Niemeyer in ihrer Serie Der liebe Gott will mich noch nicht fotografiert, sieht man nur ihre Hand, die ein Buch hält. Die fast 100-jährige Frau ist sehr präsent in allen Fotografien dieser Serie, obwohl ihr Gesicht nie zu erkennen ist. Mit subtilen Wahrnehmungen der Gegenstände, Interieurs und Alltagsrituale sensibilisiert die Fotografin den Betrachter für einen privaten Kosmos, den sich ein Mensch im Alter geschaffen hat. Die friedliche Stimmung in den Bildern erscheint dabei nie als ein verklärendes Idyll. Der präzise Blick von Ninette Niemeyer sucht nach einer Authentizität, die nicht durch eine sachliche Zurückgenommenheit erlangt wird, sondern durch ein emphatisches Interesse an ihrer Protagonistin und deren Gefühlswelt zwischen Zufriedenheit und Einsamkeit.


Joseph Ner Chio, Der Boden unter meinen Füßen

Die Motivation für Joseph Neri Chio zu seiner fotografischen Arbeit Der Boden unter meinen Füßen basiert auch auf einer persönlichen Reflexion seines Lebensraumes. Seine Bildfolge geht aber über den privaten Horizont hinaus und konfrontiert im Blick auf Nürnberg, wo er seit 9 Jahren ansässig ist, Spuren des Zweiten Weltkriegs mit Porträts von Flüchtlingen, die in dieser Stadt Schutz vor dem Leid in ihren Ländern suchen. Jenseits jeglicher ideologischer Wertung wird in den einfühlsamen Farbfotografien von geschichtsträchtigen Orten die Last der Vergangenheit spürbar, gepaart mit der Hoffnung für eine weltoffenere Zukunft.


Lisa Frechen, Wartestellen

Auch wenn in den Fotografien von Lisa Frechen keine Personen zu sehen sind, handeln ihre in serieller Strenge und formaler Stringenz aufgenommenen Wartestellen von einer Kultur der Begegnung von Menschen in der Öffentlichkeit. Die sehr individuell gestalteten Häuschen im ländlichen Raum werden zu Bühnen des realen Lebens und stimulieren den Betrachter, diese mit eigenen Geschichten zu füllen. So unterschiedlich ist der Charakter dieser architektonischen Relikte aus einer anderen Zeit zwischen Heimeligkeit, Skurrilität und Tristesse, dass wir bei aller Sachlichkeit der Darstellung in ein Wechselbad der Gefühle entführt werden.


Jutta Holtkamp, Hommage an Lamrs-Loyce, Ulysses

Eine Art Kammerspiel stellt die Hommage an James Joyce – Ulysses von Jutta Holtkamp dar. In einer verschachtelten Bildabfolge lässt sie eine Wohnung in Köln, in der sie mehrere Jahre wohnte im Rückblick als einen Ort im Umbruch erscheinen. Die Art der Sequenzierung, mit der sie die Fotografien collageartig zusammenwirken lässt, schafft eine Rätselhaftigkeit mit der das Gewohnte hinterfragt wird. Alltägliche Dinge erscheinen nicht in ihrem funktionalen Kontext und können dadurch eine eigene Erzählkraft entwickeln. Für diese unkonventionelle Form der Narration hat Jutta Holtkamp ihre Inspiration aus der Literatur geholt und dabei in besonderem Maße von James Joyce.


Wolfgang Kleufer, Die Schönheit der Vergänglichkeit

Die Schönheit der Vergänglichkeit hat Wolfgang Kleufer an einem Ort aufgespürt, wo man diese nicht erwarten würde - in der Leverkusener Innenstadt. Verlassene Geschäfte zeugen davon, dass hier die Ära eines vitalen Stadtlebens lange vergangen ist. Mit einem subjektiv dokumentierenden Blick hat Kleufer seinen Fokus auf die Hoffnungsschimmer inmitten der trostlos anmutenden Szenerien gelegt. Es geht ihm nicht um eine vordergründige Anklage gegen eine verfehlte Stadtpolitik, vielmehr sieht er gerade in einem Transformationsprozess mit ungewöhnlichen Nutzungen das Potential für Veränderung. Die Leblosigkeit wird nicht festgeschrieben im tiefen Grau, sondern in der Bildstrecke konterkariert mit einer intensiven Farbigkeit.


Stefan Ostler, Schweigen ist Kunst

Losgelöst von einer konkreten Verortung fügen sich die Fotografien von Stefan Ostler mit dem Titel Schweigen ist Kunst zu einem visuellen Tagebuch mit komplexen assoziativen Bildverkettungen zusammen. Seine Bilder entstehen in einem intuitiven Prozess und sind emotionaler Ausdruck des Erlebens seiner Umwelt mit allen Sehnsüchten, Ängsten, Zweifeln und Gewissheiten. Im Zusammenspiel der Fotografien, der rhythmischen Sequenz von Einblicken in private und öffentliche Räume, entstehen Geschichten ohne Anfang und Ende, die gerade mit ungewöhnlichen Bildkombinationen die Fantasie des Betrachters beflügeln. Die poetische Kraft der Fotografien basiert auf einer Wahrnehmung der Welt, die befreit ist von eindeutigen Begrifflichkeiten.


Ralf Maximoff, Meine Sicht auf Depression

Mit seiner Serie Meine Sicht auf Depression sucht Ralf Maximoff nach Wegen, dieser Form einer psychischen Störung in seinem persönlichen Umfeld mit Bildern zu begegnen. Eine sachliche Darstellung oder dokumentarische Analyse würde seinem Blick auf die Symptome dieser Krankheit nicht gerecht. Die seelischen Zustände mit gedrückter Stimmung und mangeldem Selbstwertgefühl können für ihn nur durch Inszenierungen vor der Kamera sichtbar gemacht werden. Die gemeinsame Arbeit mit seiner Protagonistin ist dabei von wesentlicher Bedeutung. Innen- und Aussenwelten wechseln sich in der Serie ständig ab zwischen der Verlorenheit des Individuums in der Natur und dem Eingeschlossensein in der eigenen engen Welt. Die surreal wirkenden Fotografien machen deutlich, wie fragil unsere Vorstellungen der Wirklichkeit sind.


Ralf Salewski, Begegnungen

Ralf Salewski erfasst dagegen in seinen Straßenfotografien mit dem Titel Begegnungen ungestellte Momente, die das Theater des realen Lebens in seiner ganzen Vitalität widerspiegeln. Gerade in der Flüchtigkeit der eingefangenen Augenblicke liegt die besondere Qualität dieser Standbilder aus dem Fluss der alltäglichen Eindrücke. Sie entwickeln dabei zugleich eine Präzision in der Sicht auf den Menschen und seine Präsenz im urbanen Raum. Dieser erscheint wie eine Bühne für die Passanten als Darsteller ihres eigenen Lebens. Die Authentizität im Blick auf den Menschen besteht für Ralf Salewski gerade darin, das immer wiederkehrende Schauspiel des Alltäglichen mit viel Sinn für Humor einzufangen.


Andreas Kerschgens

Die S/W-Fotografien von Andreas Kerschgens entführen den Betrachter in eine völlig andere Welt jenseits der Routinen des Gewöhnlichen. Im dramatischen Licht erscheinen seine Protagonist/Innen wie in einen Rausch versetzt, euphorisiert vom Tanz, traumwandelnd in einer surreal anmutenden Welt. Es gibt keinen Stillstand in der rhythmischen Sequenz von expressiver Gestik und Mimik. Alles in diesen Fotografien folgt einer subtilen Choreografie und selbst die wild wuchernden Äste eines Baumes, im Spotlight des Blitzlichts aus der Nacht herausgerissen, fügen sich ein in den geheimnisvollen Sound der Bilder.