Lichtblick-School

The Theatre of Real Life Vol. 18

6-monatiges Seminar von Wolfgang Zurborn an der Lichtblick School
Januar - Juni 2021


Cover des Katalogs zum Seminar The Theatre of Real Life vol. 18, Fotografie: Dirk Marwede

mit Arbeiten von:
Dirk Marwede • Marc Täuber • Jörg Egerer • Wolfgang Krummacker • Jutta Stocksiefen

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Ein wesentliches Merkmal der Fotografie ist, als "realistisches" Werkzeug der Aufzeichnung von Lebenswelten zu dienen. Doch gerade die Surrealisten hatten schon früh das Medium für sich entdeckt, weil sie in der Fotografie die Möglichkeit gesehen hatten, unter der Oberfläche des Sichtbaren das Widersprüchliche, Irrationale und Mystische zu erkunden. Real und surreal sind bei dieser künstlerischen Haltung kein unvereinbarer Gegensatz, sondern gerade in der Verflechtung von Traum und Wirklichkeit, von Imagination und Erforschung, von Erfindung und Dokumentation, wird die besondere Faszination des Mediums Fotografie gesehen.

Die in diesem Katalog vorgestellten Arbeiten von Teilnehmer*innen aus dem Fotoseminar "The Theatre of Real Life" von Wolfgang Zurborn an der Lichtblick School, bewegen sich alle auf dieser Schnittstelle zwischen real und surreal. Mit unterschiedlichen experimentellen und konzeptionellen Techniken der Kombination, Sequenzierung, Collagierung und Inszenierung von Bildern werden Wahrnehmungsräume geschaffen, in denen das Banale zum Erhabenen wird, das Vertraute zum Bedrohlichen und das Ernsthafte zum Grotesken. Gerade die Loslösung von einer sachlich eindeutigen Interpretation des Gesehenen, sensibilisiert die Betrachter*innen für eine vielschichtige Perspektive auf das Gegenwärtige.


Dirk Marwede, Privatly Public

In den ungewöhnlichen Bildkombinationen seiner Serie Privatly Public lässt Dirk Markwede private und öffentliche Welten zu einem Bewusstseinsstrom zusammenfließen. Die Montage von Schwarzweißaufnahmen im Stile einer Straßenfotografie mit fragmentarischen Farbfotografien, die alltägliche Objekte aus ihrer eigentlichen Funktion entreißen, kreiert hochkomplex assoziative visuelle Dialoge. Der Fotograf kann dabei aus einem langjährig gewachsenen Archiv von intuitiv erfassten Momenten des Alltags schöpfen: Aus sehr persönlichen Beobachtungen in der Familie ebenso wie aus Streifzügen im urbanen Raum. Die Kunst des Editierens seiner Sammlung von Fotografien besteht darin, das Unbewusste nicht in einem rationalen Filter zu eliminieren, sondern die Bilder so zusammenwirken zu lassen, dass sie dem Paradoxen und Widersprüchlichen einen Raum geben, in dem ein breites Spektrum von Emotionen zum Ausdruck kommt.


Marc Täuber, The Kennedy

Wie in einem Film Noir wird in den düsteren Schwarzweiß-Fotografien von Marc Täuber die Kennedybrücke in Bonn zu einer Bühne für dunkle Fantasien. Das tiefe Schwarz in seinen Bildern lässt die Betrachter*innen nicht aus der magischen Anziehungskraft der Nacht entkommen. Mit harten Gegenschnitten werden in der Bildabfolge szenische Bilder vom Geschehen auf der Brücke, mit symbolisch aufgeladenen fragmentarischen Sichten auf Details des Bauwerkes und Fundstücke aus seinem Umfeld, in einem rhythmischen Wechsel kontrastiert. Auf diese Weise entsteht ein spannungsgeladenes Narrativ. Die regelmäßig erscheinenden Bilder vom Verkehr auf der Brücke, mit vereinzelt auftauchenden Passant*innen, kreieren eine Zeitebene in der Erzählung, während die abstrakteren Motive das Gesehene der Momenthaftigkeit entreißen. Im Stil eines magischen Realismus geht es dem Fotografen nicht um ein reines Abbild der Wirklichkeit, sondern um die Imagination von etwas Unsichtbarem. So setzt er auch mit dem Titel der Serie The Kennedy ein komplexes Netz von Assoziationen frei.


Jörg Egerer, Die Ahnung der Dinge

„Der Verrat der Bilder“ betitelt René Magritte eines seiner berühmtesten Gemälde, auf dem eine Pfeife realistisch kombiniert mit dem Schriftzug „Ceci n’est pas une pipe“ („Das ist keine Pfeife“) dargestellt wird. Die Infragestellung eines Realismus in der Kunst, ist auch für die Fotografie von Jörg Egerer von zentraler Bedeutung. Er bewegt sich mit seiner fotografischen Arbeit Die Ahnung der Dinge auf der Schnittstelle zwischen hyperpräziser Abbildung und assoziativer Imagination. Mit filigranem Einsatz von Licht und einem präzisen formalen Minimalismus, setzt er banale Requisiten des Alltags so in Szene, dass sie jenseits ihrer Funktion ein außergewöhnliches Eigenleben entwickeln. Die Begrifflichkeit und bildhafte Vorstellung von Gegenständen werden dabei direkt gegenübergestellt. So kombiniert er das Wort „Locher“ in schwarzer Schrift auf weißem Grund, mit dem Abbild von zwei kleinen kreisrunden Papierstücken auf hellgrauer Fläche. Der Begriff „Locher“ ist nicht nur der Titel der Arbeit, sondern ein gleichberechtigter Teil des Werkes. Er behauptet den Gegenstand, während das Bild die Imagination und Fantasie des Betrachters herausfordert, sich ein Objekt vorzustellen, das man nicht in seiner Ganzheit sieht.


Wolfgang Krummacker, Der Himmel eine Schnur

Bei den Stillleben von Wolfgang Krummacker entziehen sich alltägliche Objekte ihrer
ursprünglichen Funktion und entwickeln ein außergewöhnliches Eigenleben. Jenseits eines rationalen Umgangs mit den Dingen, entstehen in sorgfältig inszenierten Aufbauten kleine Bühnen, in denen die Kollision von unterschiedlichen Objekten, Oberflächen, Materialien und Stofflichkeiten Fantasieräume aufstößt, für eine Befreiung aus dem Korsett der starren Deutungen. Mit dem Titel Der Himmel eine Schnur macht Wolfgang Krummacker deutlich, dass für ihn die Grenzen zwischen dem Banalen und Erhabenen verschwimmen und sich die Dimensionen in der Vorstellungskraft verselbständigen. Es ist der poetische Dialog der im Alltag gefundenen Objekte, der Konstruktionen von Wirklichkeit, auf der Schnittstelle von Abstraktion und Gegenständlichkeit entstehen lässt.


Jutta Stucksiefen, flucht • punkt

Mit ihren Fotomontagen nutzt Jutta Stocksiefen eine der zentralen künstlerischen Strategien des Surrealismus, indem sie Kombinationen und Schichtungen von Bildwelten schafft, die keiner vordergründigen Logik folgen, aber in ihrer visuellen Kraft neue Sinnzusammenhänge kreiert. Es sind verschiedene Quellen aus der die Künstlerin ihre Fotografien für die Werkgruppe flucht • punkt schöpft. Alte Schwarz-Weiß-Fotografien von persönlichen Begegnungen, wie aus einem Tagebuch entnommen, stoßen auf abstrakt verdichtete urbane Fragmente mit kräftiger Farbigkeit. Mit einer großen Lust am Experiment nutzt Jutta Stocksiefen unterschiedliche visuelle Mittel wie radikale Unschärfen, extreme Ausschnitte, eigenwillige Perspektiven und zeichenhafte Übermalungen, um bei den einzelnen Bildelementen, aus denen sich ihre Collagen zusammensetzen, die Balance zwischen Realem und Surrealem so einzustellen, dass im Zusammenspiel eine Vision unserer zeitgenössischen Welt zwischen Traum und Wirklichkeit entsteht.