Lichtblick-School

The Theatre of Real Life Vol. 19

6-monatiges Seminar von Wolfgang Zurborn an der Lichtblick School
Juli - Dezember 2021


Cover des Katalogs zum Seminar The Theatre of Real Life vol. 19, Fotografie: Evelyn Breitenwischer

mit Arbeiten von:
Susanne Beimann, Marcel Kamps, Doro Hartmannshenn,
Thomas Brandl, Sonja Werner, Evelyn Breitenwischer

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Die Suche nach Authentizität bei dem fotografischen Blick auf den eigenen Lebensraum und der Drang, mit Inszenierungen von Bildern ausdrucksstarke Imaginationen des Gegenwärtigen zu schaffen, stellen keinen unüberwindlichen Gegensatz dar. Vordergründig betrachtet verbinden wir mit der Darstellung des Realen Begriffe wie "sachlich", "neutral", "dokumentarisch" und mit dem Theatralischen Ausdrücke wie "künstlich", "expressiv", "unecht", "verspielt". Wie soll es aber möglich sein, ein vitales Zeugnis des alltäglichen Lebens zu formulieren, ohne Paradoxien und Widersprüchlichkeiten in der Wahrnehmung mit einzubeziehen?
Eine auf wissenschaftliche und typologische Katalogisierung reduzierte Weltsicht spart das in der Betrachtung aus, was für die Menschen von existenzieller Bedeutung ist, ihre Emotionalität.

Menschen in unterschiedlichsten Gefühlszuständen und psychischen Verfassungen spielen eine zentrale Rolle in den in diesem Katalog vorgestellten fotografischen Arbeiten. Mit unterschiedlichen künstlerischen Strategien zwischen dokumentarischer Annäherung, subjektiver Interpretation, konzeptioneller Durchdringung und experimenteller Schichtung werden individuelle Narrative entwickelt, die die Rolle des Menschen im Spannungsfeld der Behauptung als Individuum und des Aufgehens in der Masse beleuchten. Was die Arbeiten der Teilnehmer*innen an dem Fotoseminar "The Theatre of Real Life" an der Lichtblick School bei aller Diversität verbindet, ist die Haltung, nichts beweisen oder eindeutig bewerten zu wollen, sondern sich selbst in einem offenen identitätsstiftenden kreativen Prozess zu verstehen.


Susanne Beimann, Mein Leben mit Karl (und) Leander, eines psychisch Kranken. Gefühlter Blick einer Schwester

Susanne Beimann hat sich mit ihrer Arbeit Mein Leben mit Karl (und) Leander, eines psychisch Kranken. Gefühlter Blick einer Schwester. auf einen Prozess der Annäherung an ihren Bruder eingelassen, der innere Bilder durch einen intuitiven Prozess des Sehens freigelegt hat. Dabei ist ein sehr ungewöhnliches Porträt entstanden, da die Person in den Fotografien nicht direkt zu sehen ist und die Fotografin auch nicht beabsichtigt, die Krankheit in offensichtlicher Form zu dokumentieren. Mit einem sensiblen Blick schafft sie es vielmehr, alltägliche Objekte und Räume aus ihrem gemeinsamen persönlichen Umfeld so ins Bild zu setzen, dass sie viel über die Beziehung zu ihrem Bruder erzählen und ihr selbst erst klarmachen, welchen Einfluss seine Krankheit auf sie hat.


Marcel Kamps, A single second feels like a century

Ganz im Gegensatz dazu stellt Marcel Kamps in seiner Porträtserie A single second feels like a century eine Vielzahl von Menschen aus seinem persönlichen Umfeld mit Polaroidaufnahmen vor, die den Moment der unmittelbaren Begegnung betonen. Während Andy Warhol diese Technik in den 70er Jahren nutzte, um in seinen seriellen Porträts von Celebrities die Oberfläche einer emotionslosen Wirklichkeit zu dokumentieren, nutzt Marcel Kamps die besondere ästhetische Form der Polaroids um seine Protagonist*innen an der Schnittstelle von Idealisierung und Wahrhaftigkeit zu zeigen. Die sequentielle Reihung der Aufnahmen folgt dabei keiner Kategorisierung nach Beruf, Szene, Ort oder Zeit. Gerade durch diese Befreiung von einer thematischen Logik, bekommen die dargestellten Personen in ihren Selbstinszenierungen eine ganz eigene körperliche Präsenz. Die Trennlinie zwischen Theater und Realität verschwimmt und die Einbeziehung von monochromen "Fehlschüssen", mal Schwarz, mal Weiß, betont die subjektive Konstruktion von Wirklichkeit.


Doro Hartmannshenn, Momentaufnahme

Einen ganz individuellen Entwurf ihres Lebensumfeldes kreiert Doro Hartmannshenn mit den Fotografien aus ihrer Serie Momentaufnahme. Den Moment versteht sie dabei nicht als einen situativ erfassten Augenblick in komplexen Alltagsszenerien. Die Vielschichtigkeit ihrer Arbeit entsteht vielmehr in der Kombination von fragmentarischen Sichten auf Architektur, Objekt und Mensch. Sie schafft dabei ein Theater des realen Lebens, indem sie alles Abgebildete durch eine visuelle Verdichtung aus einem rein funktionalen Kontext entrückt und dem Gesehenen dadurch ein ungewöhnliches Eigenleben verleiht. In der Balance zwischen Abbild und Imagination wird die Fantasie der Betrachter*innen stimuliert, die Puzzleteile zu einer sinnlichen Erfahrung von Welt zusammenzufügen.


Thomas Brandl, Seelenriss

Eine große emotionale Herausforderung bildet für Thomas Brandl die Auseinandersetzung mit seiner Familiengeschichte als Sohn eines KZ-Wärters. Er kann zurückgreifen auf ein umfangreiches historisches Bild- und Textmaterial, das lange im Keller schlummerte, aber ein sachlich dokumentarischer Rückblick auf seine Familie hätte seinen oft sehr düsteren Empfindungen nicht den richtigen Ausdruck verliehen. So fügt er in seiner Serie Seelenriss diese Zeugnisse eines dunklen Kapitels der Geschichte zu einer Bildmontage mit Inszenierungen von Schaufensterpuppen zusammen, die Erinnerungen an beklemmende Stimmungen im Elternhaus darstellen. Gerade die Kombination von Dokument und Fiktion schafft dabei eine Sensibilisierung für die vielen Schichten von inneren und äußeren Bildern, mit denen wir subjektive Konstruktionen von Erinnerung kreieren.


Sonja Werner, Some and Difference

Inszenierte und reale Welten werden auch in den Fotografien der Serie Some and Difference von Sonja Werner gegenübergestellt. In einem Langzeitprojekt hat sie mit Tänzer*innen und dem Choreografen Richard Siegal des Ballet of Difference am Schauspiel Köln zusammengearbeitet. In der Kombination von Porträts, Bühnenbildern, Theaterszenen und alltäglichen Stillleben wird ein subtiles Bild der Tanzproduktion geschaffen, das alle Akteur*innen als Teil eines Ensembles und zugleich als Individuen zeigt. In der Choreografie auf der Bühne wirken sie wie eine Einheit und im alltäglichen Ambiente, losgelöst von der Rolle, kommen ihre Persönlichkeiten zum Vorschein. Sonja Werner's Arbeit über das Tanztheater entwickelt eine Authentizität bei ihrem Blick auf die Menschen, gerade weil sie die Trennung zwischen Inszenierung und Alltag verschwimmen lässt.


Evelyn Breitenwischer, Paradise

Paradise ist der verlockende Titel der grell farbigen Fotografien von Evelyn Breitenwischer. Sie verführen uns in den visuellen Rausch von Jahrmarktszenen. Dem Overkill an Reizen, dem Überbordenden an Verlockungen wird im Strom der Bilder ein expressiver Ausdruck verliehen. Das Chaos der dargestellten Szenerien wird durch präzise Bildausschnitte und ein geschicktes Edit der Fotografien gebändigt, ohne dass die Lebendigkeit der Kirmeswelt mit all ihren Absurditäten und Paradoxien verloren geht. Für Evelyn Breitenwischer ist es das Paradies, in das sie, einem intuitiven Antrieb folgend, eingetaucht ist und dem sie mit einem bewußten Layout eine überzeugende Form gegeben hat. Das fruchtbare Zusammenwirken von intuitivem und konzeptionellem Handeln kann dabei grundsätzlich als eine wichtige Voraussetzung für die Entwicklung von fotografischen Projekten gesehen werden,