Lichtblick-School

The Theatre of Real Life Vol. 25

6-monatiges Seminar von Wolfgang Zurborn an der Lichtblick School
Juli bis Dezember 2024


Cover des Seminarkatalogs The Theatre of Real Life vol. 25, Foto: Darja Mitrovic

mit Arbeiten von / with works by;

Darja Mitrovic, Daniel Merker, Lucia Marcano, Cas Bochner, Annette Eckes und Julia Reck

 

"Hier schaut das Leben sich selbst an. Die Tiefe des mythischen Denkens stammt aus der notwendigen Paradoxie seiner Bilder, denn die Tatsache des Lebens, die in ihm zum Selbstbewusstsein kommt, ist unlogisch, widerspruchsreich."
(Heinrich Robert Zimmer)

Auf der Suche nach einer eindeutig zu definierenden Wirklichkeit wird das Medium Fotografie in der Moderne dagegen meist erst dann als künstlerische Position akzeptiert, wenn sie einer wissenschaftlichen Methodik folgt. Benötigen wir aber tatsächlich eine distanzierte Betrachtungsweise, um zu wahrhaftigen Dokumenten unserer Zeit zu kommen, oder ist nicht eine radikal subjektive Sicht gefordert, um einen emotionalen Zugang zu den Realitätsebenen hinter dem reinen Abbild zu ermöglichen?

Die Teilnehmer*innen des 6-monatigen Fotoseminars "The Theatre of Real Life" von Wolfgang Zurborn an der Lichtblick School in Köln haben ganz eigenständige Arbeiten geschaffen, die losgelöst von dem Anspruch einer objektiven Weltsicht auf sehr individuelle Weise die persönliche Haltung zwischen Distanz und Nähe zum fotografierten Sujet formulieren. Die beteiligten Fotograf*innen Darja Mitrovic, Daniel Merker, Lucia Marcano, Cas Bochner, Annette Eckes und Julia Reck entführen die Betrachter*innen dabei in Welten zwischen Traum und Wirklichkeit.

‘Here life looks at itself. The depth of mythical thinking stems from the necessary paradox of its images, because the fact of life that comes to self-consciousness in it is illogical, full of contradictions.’
(Heinrich Robert Zimmer)

In the search for a clearly definable reality, the medium of photography in the modern age is usually only accepted as an artistic position when it follows a scientific methodology. But do we really need a distanced approach in order to arrive at truthful documents of our time, or is a radically subjective view not required in order to enable emotional access to the levels of reality behind the pure image?

The participants in Wolfgang Zurborn's 6-month photography seminar ‘The Theatre of Real Life’ at the Lichtblick School in Cologne have created completely independent works that, detached from the claim of an objective view of the world, formulate their personal attitude between distance and closeness to the photographed subject in a very individual way. The participating photographers Darja Mitrovic, Daniel Merker, Lucia Marcano, Cas Bochner, Annette Eckes and Julia Reck take the viewer into worlds between dream and reality.


Darja Mitrovic, Melodie der Straße

Die Fotografie eines eng umschlungenen Paares auf einem öffentlichen Platz bildet eine empathische Einstimmung auf die Serie Melodie der Straße von Darja Mitrovic. In der Bildsequenz entsteht ein subtiler Rhythmus, der den urbanen Raum körperlich erfahrbar macht. Mit großer Leichtigkeit und feiner Ironie werden Passant*innen zu Darsteller*innen eines ganz persönlichen Schauspiels. Der präzise Blick für den richtigen Moment und die überraschende Perspektive auf die Requisiten des Alltags lassen das ansonsten Unbeachtete in einem ganz neuen Licht erscheinen. Als Flaneurin ist für die Fotografin die Offenheit für das Zufällige, der Verzicht auf ein vorgegebenes Ziel, eine wichtige Komponente ihrer künstlerischen Arbeit. Die etwas derangiert wirkende Ankündigung eines Ziels in einem ihren Bildern ist dafür wohl als augenzwinkender Hinweis zu verstehen.

The photograph of a closely embraced couple in a public square forms an empathetic introduction to the series Melody of the Street by Darja Mitrovic. The sequence of images creates a subtle rhythm that makes the urban space physically tangible. With great ease and subtle irony, passers-by become actors in a very personal play. The precise eye for the right moment and the surprising perspective on the props of everyday life allow the otherwise unnoticed to appear in a completely new light. As a flâneur, the photographer's openness to the accidental, the renunciation of a predetermined goal, is an important component of her artistic work. The somewhat deranged-looking announcement of a destination in one of her pictures is probably to be understood as a wink of the eye.


Daniel Merker, Durch die Blume

Der konkreten Erfassung realer Lebenswelten noch entrückter erscheinen die hochformatigen Farbfotografien der Serie Durch die Blume von Daniel Merker. Mit einer sehr starken Fragmentierung des Blicks kreiert er Bilderwelten, die Fantasieräume für die Betrachter*innen öffnen. Reste des Authentischen geben dabei aber immer Hinweise auf die Wahrnehmung von wirklich Existierendem. Die Abstraktion in der visuellen Verdichtung des Dargestellten fördert im assoziativen Zusammenspiel der Aufnahmen die poetische Kraft der subjektiven Narration. Farben, Oberflächen, Materialien, Formen, Linien und Flächen können ihre ganz eigene ästhetische Wirkung entfalten, da die Fotografie von ihrer Funktion als eindeutiges Abbild der Realität befreit ist. Damit ist der Grundstein gelegt für eine ganz persönliche Bildsprache, die einer Wahrheit hinter dem Offensichtlichen Ausdruck verleiht.

The vertical-format colour photographs in Daniel Merker's series Durch die Blume (Through the Flower) appear even more removed from the concrete recording of real life worlds. With a very strong fragmentation of the gaze, he creates pictorial worlds that open up fantasy spaces for the viewer. However, remnants of the authentic always provide clues to the perception of what really exists. The abstraction in the visual condensation of what is depicted promotes the poetic power of subjective narration in the associative interplay of the images. Colours, surfaces, materials, shapes, lines and surfaces can develop their very own aesthetic effect, as photography is freed from its function as a clear image of reality. This lays the foundation for a very personal visual language that expresses a truth behind the obvious.


Lucia Marcano, La Vida Alemania

"Enjoy the Distance". Dieser auf einer Hauswand gefundene Slogan bildet das Motto für die Arbeit La Vida Alemania, einer fotografischen Annäherung von Lucia Marcano an Deutschland. Als Außenseiterin in einem neuen Land nutzt sie die Möglichkeit, aus einer Distanz heraus einen ungewöhnlichen, herausfordernden Blick auf das zu werfen, was als selbstverständlich betrachtet wird. Mit einer radikalen Montagetechnik fügt sie Einblicke in das deutsche Leben Stoß an Stoß zu einem Bilderfluss zusammen, der in erfrischender Weise die Routinen alltäglicher Rituale in Frage stellt. Die Fotografin gibt keine eindeutigen Antworten und vermittelt keine definitiven Wertungen. Sie läßt vielmehr den Betrachter*innen die Freiheit, in den collageartig aufeinander prallenden Szenerien eine eigene Vorstellung davon zu entwickeln, wodurch eine nationale Identität geprägt wird.

‘Enjoy the Distance’. This slogan found on a house wall forms the motto for the work La Vida Alemania, a photographic approach to Germany by Lucia Marcano. As an outsider in a new country, she uses the opportunity to take an unusual, challenging look at what is taken for granted from a distance. Using a radical montage technique, she assembles glimpses of German life into a flow of images that question the routines of everyday rituals in a refreshing way. The photographer gives no clear answers and conveys no definitive judgements. Instead, she gives the viewer the freedom to develop their own idea of what characterises a national identity in the collage-like clashing scenes.


Cas Bochner, Broken Feathers, or: The Silence Between Us

Eine ganz persönliche Suche nach Heimat stellt die Serie Broken Feathers, or: The Silence Between Us von Cas Bochner dar. Es geht dem Fotografen dabei aber eher um eine emotionale als um eine nationale Zugehörigkeit. In magisches Licht getaucht mutiert die Flora und Fauna in seinem Lebensumfeld zu einer Traumwelt, in der ambivalente Gefühle zwischen Angst und Hoffnung zum Ausdruck kommen. Auch wenn Menschen in den Fotografien oft nur latent präsent sind, spielen sie eine wichtige Rolle in der Bilderzählung von Cas Bochner. Sie scheinen die Natur mit ihren Händen begreifen zu wollen um sich mit ihr zu vereinigen. Diese Sehnsucht nach einer Auflösung der Distanz mündet aber nicht in einer harmonischen Sicht auf die Umwelt. Der Fotograf mißtraut der Idylle und kreiert mit ungewöhnlichen Anschnitten und vielschichtig assoziativen Bildkombinationen eine ganz eigene Poesie, die das Verhältnis von Mensch und Natur in einem spannungsgeladenen Zustand zeigt.

The series Broken Feathers, or: The Silence Between Us by Cas Bochner represents a very personal search for home. However, the photographer is more concerned with an emotional rather than a national affiliation. Bathed in magical light, the flora and fauna in his living environment mutate into a dream world in which ambivalent feelings between fear and hope are expressed. Even though people are often only latently present in the photographs, they play an important role in Cas Bochner's pictorial narrative. They seem to want to grasp nature with their hands in order to unite with it. However, this longing for a dissolution of distance does not result in a harmonious view of the environment. The photographer mistrusts the idyll and uses unusual angles and multi-layered associative image combinations to create his very own poetry, which shows the relationship between man and nature in a state of tension.


Annette Eckes, Traumland

Von einer Melancholie getragen sind auch die Landschaftsaufnahmen der Serie Traumland von Annette Eckes, auch wenn sie eine wesentlich dokumentarischere Anmutung haben. Es ist die besondere Qualität der Bilder, dass sie auf präzise Weise reale Umwelt beschreiben und zugleich Seelenlandschaften darstellen, in denen subtile Empfindungen erfahrbar gemacht werden. Walker Evans, einer der einflußreichsten Vertreter der Dokumentarfotografie, sah in seinen Bildern den höchstmöglichen subjektiven Ausdruck seiner Sicht auf die Welt und das steht ganz im Gegensatz zu dem weitverbreiteten Dogma einer sachlich konzeptionellen Suche nach Objektivität. Mit der Skepsis gegenüber einer eindeutigen Interpretation von Wirklichkeit vertraut Annette Eckes ihrer Intuition, wenn sie Naturräume, in denen die Eingriffe des Menschen spürbar sind, in einer traumhaft wirkenden Schönheit erscheinen läßt.

The landscape photographs in Annette Eckes' Traumland series are also characterised by melancholy, even if they have a much more documentary feel. The special quality of the images is that they precisely describe the real environment and at the same time depict landscapes of the soul in which subtle feelings are made tangible. Walker Evans, one of the most influential representatives of documentary photography, saw in his pictures the highest possible subjective expression of his view of the world and this stands in stark contrast to the widespread dogma of a factual, conceptual search for objectivity. Sceptical of an unambiguous interpretation of reality, Annette Eckes trusts her intuition when she allows natural spaces, in which human intervention can be felt, to appear in a dreamlike beauty.


Julia Reck, Lost in Pictures

Lost in Pictures fühlt sich Julia Reck manchmal, wenn sie sich treiben lässt im Strom der Eindrücke, die auf sie in den verschiedensten Regionen dieser Welt einwirken. Die stärksten Bilder sind dabei gerade diejenigen, die eine Imagination jenseits einer konkreten Verortung schaffen. Ihre Begegnungen mit Menschen, urbanen Räumen und Landschaften widersetzen sich einer linearen Narration. Bei der Sichtung ihrer in vielen Jahren gesammelten Bilder besteht die Herausforderung gerade darin, sich in dem scheinbaren Chaos nicht verloren zu fühlen, sondern in der paradoxen Gegenüberstellung von Szenerien aus unterschiedlichen Kontexten eine visuell stringente Erzählung voller Überraschungen zu kreieren. Jede einzelne Fotografie in der Bildfolge hat ihre eigene Erzählung, aber in der Serie klingen sie - jenseits einer begrifflichen Logik auf wundersame Weise zusammen.

Julia Reck sometimes feels Lost in Pictures when she lets herself drift in the stream of impressions that affect her in the most diverse regions of the world. The most powerful images are precisely those that create an imagination beyond a concrete localisation. Her encounters with people, urban spaces and landscapes defy a linear narrative. When viewing the images she has collected over many years, the challenge is not to feel lost in the apparent chaos, but to create a visually compelling narrative full of surprises in the paradoxical juxtaposition of scenes from different contexts. Each individual photograph in the sequence has its own narrative, but in the series they resonate together in a wondrous way - beyond any conceptual logic.