Lichtblick-School

The Theatre of Real Life Vol. 23

6-monatiges Seminar von Wolfgang Zurborn an der Lichtblick School
Juli - Dezember 2023


Cover des Seminarkatalogs The Theatre of Real Life vol. 23, Foto: Jens F. Kruse
In der Publikatino virtuell blättern und bestellen bei Blurb.

mit Arbeiten von / with works by;

Jutta Fischer, Michel Lokossou, Mandy "hady" Schulte, Dieter La Noutelle,
Michael Slogsnat, Jens F. Kruse, Christian Siepmann, Helen Gräser,
Andrea Klein
und Uwe Walter

Die fotografische Erkundung unserer Lebenswelt ist ein hochkomplexer Vorgang. Mit einer einzelnen Fotografie ist es dabei kaum möglich, eine persönliche Perspektive überzeugend zu formulieren. Erst in der Kombination und Montage von mehreren Bildern wird die Fotografie zu einem erzählenden Medium. Dabei gibt es verschiedene Montagearten, die auf der einen Seite einer linearen Logik folgen, aber andererseits auch Bilddialoge schaffen können, die vielschichtige Assoziationen bei den Betrachter*innen hervorrufen. Unterschiedliche Formen des Edits entwickeln mit den gleichen Fotografien komplett unterschiedliche Narrative. Die serielle Aneinanderreihung von Fotografien mit gleicher Thematik, Perspektive und Ästhetik war lange Zeit die dominierende künstlerische Strategie einer streng konzeptionellen Auffassung des Mediums. Für eine lebendige unkonventionelle Sicht auf unsere Gegenwart ist es aber notwendig, sich von diesem Korsett zu befreien und alle Möglichkeiten der Montage von Bildern auszuloten. Verschiedene Erzählebenen können in einer parallelen Montage verknüpft sein, gegensätzliche Bildwelten in einer Kollision aufeinanderprallen lassen, mit einer rhythmischen Anordnung den Fluss der Fotografien antreiben und mit assoziativen Verknüpfungen und Irritationen die Phantasie der Betrachter*innen beflügeln.

Die Teilnehmer*innen des 6-monatigen Fotoseminars The Theatre of Real Life mit Wolfgang Zurborn an der Lichtblick School in Köln haben alle für sich ganz individuelle Bildgeschichten kreiert mit einem breiten Spektrum von Darstellungsweisen zwischen Dokumentation, Inszenierung und Erfindung.

The photographic exploration of our living environment is a highly complex process. It is hardly possible to convincingly formulate a personal perspective with a single photograph. Photography only becomes a narrative medium in the combination and montage of several images. There are different types of montage, which on the one hand follow a linear logic, but on the other hand can also create image dialogues that evoke multi-layered associations in the viewer. Different forms of editing develop completely different narratives with the same photographs. The serial juxtaposition of photographs with the same subject matter, perspective and aesthetics has long been the dominant artistic strategy of a strictly conceptual approach to the medium. For a lively, unconventional view of our present, however, it is necessary to free oneself from this corset and explore all the possibilities of montaging images. Different narrative levels can be linked in a parallel montage, allow opposing visual worlds to collide, drive the flow of the photographs with a rhythmic arrangement and inspire the viewer's imagination with associative links and irritations.

The participants in the 6-month photo seminar The Theatre of Real Life with Wolfgang Zurborn at the Lichtblick School in Cologne have all created their own individual picture stories with a broad spectrum of presentation methods between documentation, staging and invention.


Jutta Fischer, Nebensachen

Jutta Fischer richtet ihren Blick auf Nebensachen im alltäglichen Umfeld. Dabei entstehen unspektakuläre Bilder, quadratische Aufnahmen mit dezenter Farbgebung von Spuren menschlicher Alltagskultur, die auf Reste von Natur in urbanen und privaten Räumen trifft. Die subtilen Gegenüberstellungen von minimalistisch wirkenden Fotografien lassen eine Art von Entschleunigung entstehen, die es für die Betrachter*innen möglich macht, sich auf das scheinbar Banale einzulassen. Nebensachen wie merkwürdig drapierte Jagdtrophäen und ein mit gelben Schläuchen umwickelter Baumstamm werden auf den zweiten Blick zu ausdrucksstarken Requisiten einer oft tragikomisch wirkenden Geschichte.

Jutta Fischer focusses her attention on Nebensachen (Minor matters) in everyday surroundings. This results in unspectacular images, square photographs with subtle colours of traces of everyday human culture that encounter remnants of nature in urban and private spaces. The subtle juxtapositions of minimalist-looking photographs create a kind of deceleration that makes it possible for the viewer to engage with the seemingly banal. At second glance, incidental objects such as strangely draped hunting trophies and a tree trunk wrapped in yellow hoses become expressive props in an often tragicomic story.


Michel Lokossou, Der Plausch der Bilder

Das städtische Leben mit all seinen unvorhersehbaren Momenten hat für Michel Lokossou eine große Anziehungskraft. Er lässt sich gerne treiben im Chaos der Straße und vertraut dabei seinem Instinkt, Gesten und Mimik der Menschen, urbane Räume und Alltagsobjekte so einzufangen, dass sie in einer expressiven Choreografie zusammenkommen. Diese Wirkung steigert er nochmal, indem er seine Fotografien als Bildpaare stoß am stoß kombiniert. Mit dem Titel seiner Serie Der Plausch der Bilder verdeutlicht der Fotograf den spielerischen Charakter seiner Bildmontagen. Es geht ihm nicht darum, die Motive mit Bedeutung aufzuladen, sondern mit verblüffender Leichtigkeit und Poesie seine ganz individuelle Sicht auf den Alltag voller Überraschungen und Paradoxien zum Ausdruck zu bringen.

Urban life with all its unpredictable moments has a great attraction for Michel Lokossou. He likes to drift through the chaos of the streets and trusts his instinct to capture the gestures and facial expressions of people, urban spaces and everyday objects in such a way that they come together in an expressive choreography. He heightens this effect even further by combining his photographs as pairs of images butt to butt. With the title of his series Der Plausch der Bilder (Chat of Images), the photographer emphasises the playful character of his montages. His aim is not to charge the motifs with meaning, but to express his very individual view of everyday life full of surprises and paradoxes with astonishing lightness and poetry.


Mandy "hady" Schulte, Eine Begegnung

Wie eine Märchenerzählerin erscheint eine ältere Dame auf der ersten Fotografie der Bildmontage Eine Begegnung von Mandy “hady” Schulte, die sich ohne Unterbrechung über mehrere Doppelseiten erstreckt. Das ist die ideale Einführung in einen Bilderstrom, der sich komplett löst von dem Anspruch, eine realistische Darstellung der Welt zu vermitteln. Kunstvolle Inszenierungen mit den Protagonist*innen ihrer Traumsequenzen und theatralisch anmutende Stillleben verschmelzen zu einem surrealen Sog visueller Eindrücke, der eine überwältigende Wirkung hat. Zugleich macht es das hochkomplexe Narrativ in der Gegenüberstellung verschiedenster Mythen möglich, diese reflexiv zu betrachten. Für die Fotografin liegt gerade in der inszenierten Fotografie das höchste Maß an Authentizität, da mit ihr Sehnsüchte und Ängste formuliert werden können.

An elderly lady appears like a storyteller in the first photograph of Mandy "hady" Schulte's montage Eine Begegnung (An Encounter), which extends over several double pages without interruption. This is the ideal introduction to a stream of images that completely detaches itself from the claim to convey a realistic depiction of the world. Artful stagings with the protagonists of her dream sequences and theatrical still lifes merge into a surreal maelstrom of visual impressions that has an overwhelming effect. At the same time, the highly complex narrative in the juxtaposition of the most diverse myths makes it possible to view them reflexively. For the photographer, the highest degree of authenticity lies precisely in staged photography, as it can be used to formulate longings and fears.


Dieter La Noutelle, Glasklare Momente

Ein komplett anderes Zusammenspiel von Bildern kreiert Dieter La Noutelle mit seiner Serie Glasklare Momente. Farbfotografien, die mit kunstvoll eigesetzter Unschärfe und starker Abstraktion Imaginationen des menschlichen Körpers schaffen, und fragmentarische Blicke auf Gestik und Mimik von Menschen in Schwarz-Weiß lassen zwei Erzählebenen entstehen, die sich in der Arbeit ineinander verweben. Im Wechsel von Einzelaufnahmen, Tableaus und Sequenzen bilden die Aufnahmen im quadratischen Format eine äußerst vielschichtige Wahrnehmung des Körperlichen. Es ist gerade die Reibung von detailgenauer und zugleich expressiver Präsenz alltäglicher Momente mit der fast schemenhaften Auflösung des realen Abbildes von Menschen und Objekten, die den besonderen Reiz der Arbeit ausmacht.

Dieter La Noutelle creates a completely different interplay of images with his series Glasklare Momente (Unseen Clarity). Colour photographs, which create imaginations of the human body with artfully applied blurring and strong abstraction, and fragmentary views of people's gestures and facial expressions in black and white build two narrative levels that interweave in the work. Alternating between individual shots, tableaux and sequences, the square-format photographs create an extremely multi-layered perception of the physical. It is precisely the friction between the detailed and at the same time expressive presence of everyday moments and the almost shadowy dissolution of the real image of people and objects that makes the work so appealing.


Michael Slogsnat, Dritte Realität

Eine Dritte Realität bilden für Michael Slogsnat seine S/W-Fotografien im Stile eines magischen Realismus. Intuitiv beim Flanieren in den Strassen erfasst, richten die Bilder den Blick der Betrachter*innen auf unspektakuläre Situationen und Objekte. Eigenwillige fragmentarische Perspektiven, ungewöhnliches Licht und eine grafische Verdichtung in der Komposition entrücken das Abgebildete aus einer rein funktionalen Betrachtung. Die Kunst dieser Art der fotografischen Annäherung an den eigenen Lebensraum besteht darin, alles Wahrgenommene von einer eindeutigen Interpretation zu befreien um diesem ein überraschendes Eigenleben zu ermöglichen. Die Bilder geben nicht wieder, was wir zu wissen glauben, sondern hinterfragen auf subtile Weise unsere Sehgewohnheiten.

Michael Slogsnat's black and white photographs in the style of magical realism form a Dritte Realität (Third Reality). Intuitively captured while strolling through the streets, the images direct the viewer's gaze to unspectacular situations and objects. Unconventional fragmentary perspectives, unusual light and a graphic condensation in the composition remove what is depicted from a purely functional view. The art of this type of photographic approach to one's own living space consists of liberating everything perceived from a clear interpretation in order to allow it to take on a surprising life of its own. The images do not reflect what we think we know, but subtly question our viewing habits.


Jens F. Kruse, Fragments of Time

Das Theater des realen Lebens ist ein zentrales Thema in den vielschichtigen Strassenfotografien von Jens F. Kruse. Jedes einzelne Bild wirkt schon wie eine Montage verschiedener Erzählebenen, auch wenn es tatsächlich perfekt gesehene Momente sind, in der die Wirklichkeit selbst wie eine Collage wirkt. In der Serie Fragments of Time forciert der Fotograf die Komplexität seiner Auffassung des städtischen Lebens, indem er querformatige Strassenszenen mit hochformatigen Fragmenten aus dem urbanen Raum zu einem labyrinthischen Panorama zusammenfügt. Die perfekte formale Kombination von Momenthaftigkeit auf der einen und Dekonstruktion realer Orte auf der anderen Seite, läßt eine vitale Bildwelt voller Überraschungen entstehen, in dem man sich als Betrachter*in aber nichtverloren fühlt.

The theatre of real life is a central theme in Jens F. Kruse's multi-layered street photographs. Each individual image already looks like a montage of different narrative levels, even if they are in fact perfectly seen moments in which reality itself looks like a collage. In the Fragments of Time series, the photographer emphasises the complexity of his view of urban life by combining landscape-format street scenes with portrait-format fragments of urban space to create a labyrinthine panorama. The perfect formal combination of momentariness on the one hand and deconstruction of real places on the other creates a vital visual world full of surprises, in which the viewer does not feel lost.


Christian Sieomann, Die Siedlung

Christian Siepmann richtet mit seiner Serie Die Siedlung seinen Blick dagegen auf einen ganz konkreten Ort. Die Vorstellung, mit der Fotografie eine eindeutige Wirklichkeit vermitteln zu können, liegt ihm aber völlig fern. Ihm ist bewußt, dass seine Farbfotografien von verlassen wirkenden Gebäuden und Restnatur in den Vorgärten nur die Oberfläche von Geschichten zeigen können, die sich hier im Laufe der Jahre abgespielt haben. Gerade weil die Bilder keine sachlich nüchterne Dokumentation vorgeben, sensibilisieren sie die Betrachter*innen für die Spuren menschlichen Zusammenlebens in der Siedlung. Die Qualität der Fotografien liegt hier gerade in dem, was sie nicht abbilden aber erahnen lassen können. Auch wenn in keinem der Fotografien Menschen zu sehen sind, ist ihre Präsenz allgegenwärtig.

Christian Siepmann's series Die Siedlung, on the other hand, focuses on a very specific place. However, the idea of being able to convey a clear reality with photography is far from his mind. He is aware that his colour photographs of seemingly abandoned buildings and remnants of nature in the front gardens can only show the surface of stories that have taken place here over the years. Precisely because the images do not pretend to be factually sober documentation, they sensitise the viewer to the traces of human coexistence in the estate. The quality of the photographs lies precisely in what they do not depict but can give an idea of. Even if there are no people in any of the photographs, their presence is omnipresent.


Helen Gräser, Shake

Mit ihrer Arbeit Shake hat Helen Gräser eine ganz eigene Form der Bildmontage entwickelt, in der sich drei verschiedene fotografische Serien ineinander verschränken. S/W-Fotografien aus dem privaten Umfeld und Farbaufnahmen vom Auensee und einem Volksfest werden in einem Leporello so assoziativ verkettet, dass die Fotografien über die abgebildete Binnenrealität hinaus hintergründige Perspektiven auf das Verhältnis des Menschen zu seinem Lebensraum öffnen. Erst die Aufhebung des logischen Kontextes in den separaten Serien und eine die Phantasie der Betrachter*innen stimulierende Paradoxie in den Bilddialogen ermöglicht einen emotionalen Zugang jenseits vorgefasster Bedeutungsmuster.

With her work Shake, Helen Gräser has developed her very own form of image montage, in which three different photographic series are intertwined. B/w photographs from her private surroundings and colour shots of the Auensee and a funfair are linked in a leporello in such an associative way that the photographs open up enigmatic perspectives on people's relationship to their living space beyond the internal reality depicted. Only the suspension of the logical context in the separate series and a paradox in the pictorial dialogues that stimulates the viewer's imagination enables emotional access beyond preconceived patterns of meaning.


Andrea Klein, Out ... alone ... in the night ... roaming the streets

Out ... alone ... in the night ... roaming the streets - In diesem Titel der Serie von Andrea Klein ist schon abzulesen worum es ihr geht bei ihren fotografischen Einblicken in nächtliche Strassenszenen. Es ist zu spüren, wie sehr sie die Verlangsamung der Welt in den Stunden genießt, bevor die Hektik des Tages beginnt. Gerade die Ziellosigkeit ihres Flanierens in der Stille einer noch dunklen Stadt sensibilisiert sie für eine Wahrnehmung von alltäglichen Orten und Gegenständen jenseits einer sachlichen Objektivierung. Auf Intuition vertrauend kreiert sie in der nahtlosen Sequenzierung ihrer S/W-Fotografien ein Bildgefüge, das auf subtile Weise ganz unterschiedlichen Empfindungen zwischen Ruhe und rastlosem Umherschweifen Ausdruck verleiht.

Out ... alone ... in the night ... roaming the streets - The title of Andrea Klein's series already indicates what her photographic insights into nocturnal street scenes are all about. You can sense how much she enjoys the slowing down of the world in the hours before the hustle and bustle of the day begins. It is precisely the aimlessness of her strolls in the silence of a still dark city that sensitises her to a perception of everyday places and objects that goes beyond factual objectification. Relying on intuition, she creates an image structure in the seamless sequencing of her black-and-white photographs that subtly expresses very different sensations between tranquillity and restless wandering.


Uwe Walter, Hunger nach Farben

Uwe Walter begegnet der Nacht auf eine ganz andere Weise. Es ist der Hunger nach Farben, der ihn antreibt, in ein Münchener Leben bei Nacht einzutauchen. Fotografien aus ganz unterschiedlichen Szenerien fügt er mit einer surreal wirkenden Schnitttechnik so zusammen, dass ein imposantes Panorama voller visueller Brüche entsteht, in dem extreme Gefühle zwischen Melancholie und Ekstase erfahrbar gemacht werden. Farbintensive Sichten auf urbane Fragmente in oft starker Abstraktion werden mit bühnenhaft wirkenden Stadträumen kombiniert, in denen die Menschen wie in einem verlorengegangenen Paradies zu taumeln scheinen. Auch wenn Traum und Wirklichkeit kaum mehr zu trennen sind in der Bilderwelt von Uwe Walter, so spiegelt diese doch eine authentische Erfahrung der Gegenwart wider jenseits einer künstlichen Intelligenz.

Uwe Walter encounters the night in a completely different way. It is his Hunger for Colors that drives him to immerse himself in life in Munich at night. Using a surreal-looking editing technique, he combines photographs from very different scenes to create an impressive panorama full of visual breaks in which extreme feelings ranging from melancholy to ecstasy can be experienced. Colour-intensive views of urban fragments, often highly abstract, are combined with stage-like urban spaces in which people seem to be staggering around as if in a lost paradise. Even if dream and reality can hardly be separated in Uwe Walter's pictorial world, it still reflects an authentic experience of the present beyond artificial intelligence.